Dienstag, 2. Februar 2016

N V R H

s ist vielleicht 15 bis 20 Jahre her. Damals arbeitete ich noch als Vektorschubse in einer Agentur. Wir saßen zu viert in einem Raum, der eigentlich für vier Personen zu klein war (vor allem, wenn man bedenkt, daß 2-3 dieser Personen heftigst rauchten). Ständig begleitet wurde unser Tun von rieselnden Radiomelodien, unterbrochen von Kaufappellen. Es gab damals eine Bier-Reklame, die mit dem leicht euphorisch angejauchzten Satz "Deutschland ist schön!" begann. Eben dieser Spot lief nun irgendwann einmal im Radio, als wir bei der Arbeit saßen. Ich hatte nach dem Anfangs-Statement mein 'Stimmt!' noch gar nicht zu Ende gedacht, da nahm ich es auch schon ebenso still und verschämt wieder zurück, angesichts der Reaktionen meiner Mitarbeiter, die es offenbar gar nicht glauben konnten, daß da durch das Radio zum dritten Weltkrieg und zur endgültigen Errichtung des tausendjährigen Reiches aufgerufen wurde. Denn: "Schlimm!" und "Peinlich!" und "So stumpf!" war das alles.

Szenenwechsel: Vor ebenfalls circa 15 bis 20 Jahren saß ich mit drei Freunden im Auto auf dem Weg zu einer Party. Im Radio wurde von einem Flugzeugabsturz berichtet, den niemand überlebt hatte: "Deutsche befanden sich nicht an Bord". Ein zynisches "Na, da haben wir ja nochmal Glück gehabt" und ein schon fast resigniertes, aber immer noch zornerfüllt herausgepreßtes "Ich finde das auch immer so bitter" später hob ich mal vorsichtig meinen Kopf aus dem Schützengraben und sah drei triumphierende Widerstandskämpfer, die es in letzter Sekunde hatten verhindern können, sich den in Richtung neuer Lebensraum abmarschierenden Truppen anzuschließen.

Diese beiden Szenen haben sich mir für alle Zeiten ins Gedächtnis gebrannt, denn sie öffneten mir über einige Dinge die Augen.

In Deutschland sind wir aus sattsam bekannten Gründen alle größtenteils so programmiert, braun lauerndes Gefahrenpotential nicht nur sofort zu erkennen, sondern uns auch sofort davon zu distanzieren. Und das ist gut so. Es schadet sicherlich nicht, wenn ein ganzes Land ein Frühwarnsystem entwickelt hat, welches gegen Unrechtsdiktaturen hilft.

Ist der Distanzierungs-Druck hoch, so beginnt man irgendwann damit, braune Inhalte auch dort zu orten, wo man sie vorher niemals gefunden hat.

Kommt zu dem hohen Distanzierungs-Druck der ebenfalls hohe Lohn des vor Zeugen vernehmbar reingewaschenen Namens und Gewissens, dann sucht man braune Inhalte nicht nur an den unmöglichsten Orten, sondern dann distanziert man sich von ihnen auch in der Gegenwart von Menschen, die nie und nimmer eine Rechtfertigung erwartet, geschweige denn gefordert hätten.

Dann ringt man in der Gegenwart ebenso unverdächtiger wie nicht verdächtigender Kollegen und Freunde mit den Händen und tut lieber so, als sei Deutschland nicht schön, als daß man Autobahn-Verdacht riskiert. Dann weist man den nicht einmal angedachten, geschweige denn ausgesprochenen Vorwurf der Deutschtümelei zurück und erschafft damit erst die unangenehme Situation, in der niemand mehr so richtig weiß, wer hier jetzt wem eigentlich was genau zutraut und wer sich daher ebenfalls noch geschwind reinwaschen sollte.

Es entsteht also, gewollt oder nicht, eine "Ich stand zuerst und jedes Mal mit reiner Weste da!"-Atmosphäre, in der es irgendwann nicht mehr darum geht, an einer Gesellschaft mitzuwirken, in der tatsächlich jede Art von Gewalt, jede Art von Unrecht, jede Art von Haß und jede Art von Intoleranz keinen Platz mehr hat, sondern in der es wichtiger ist, auf sich selbst zu schauen, die Dekoration der eigenen Seele zu pflegen, und den eigenen Seelen-Status permanent hinauszuposaunen: "ABSOLUT NAZI-UNVERDÄCHTIG!"

Wenn es genügt, nicht als Nazi bzw als "Rechts!" verdächtigt zu werden, dann gibt es eben auch nur eines, von dem man sich distanzieren muß. Dann muß man nicht mehr fragen, ob es vielleicht auch nicht-rechte Phänomene gibt, gegen die man sich aussprechen müßte*. Dann wird einfach bei jeder sich bietenden Gelegenheit "Nee! Das geht nicht! Das ist rechts!" gerufen, und dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem gar nicht mehr gefragt wird, ob eine Sache "Rechts!" ist, weil sie rechts ist, oder ob eine Sache "Rechts!" ist, weil irgendwer sie "Rechts!" genannt hat.

Weil plakative Selbstbelastung ("Ich bin ein böser Deutscher,...") verbunden mit direkt folgender moralisierender Selbstfreisprechung ("... aber ich bin noch lange nicht so böse wie diese Radiowerbung/diese Rundfunknachricht") offenbar hohen Suchtfaktor hat, wurde bald nicht nur nach rechts geschnüffelt, sondern in alle anderen Richtungen, die sich irgendwie als verwandt darstellen ließen. Bald war es nicht mehr genug, sich von "rechts" zu distanzieren. Bald war man dann auch nur noch sehr ungerne weißhäutig, männlich, christlich, abendländisch etc. Die Währung, mit der für das Reinheits-Rampenlicht gezahlt wurde, war immer die gleiche. Kopfsenken, Brustschlagen, Emporsteigen, Darüberstehen: "Ich bin ein böser Mann, aber ich bin noch lange nicht so böse, wie dieses sexistische Plattencover!" oder "Ich bin ein böser Katholik, aber ich bin noch lange nicht so böse, wie dieser Katechismus!" und so weiter...

Die Nazi-Verdacht-Reinwasch-Hysterie (NVRH) hat mit all ihren Spielarten über Jahrzehnte wunderbar funktioniert, aber sie scheint nun endgültig ihre Wirkung zu verlieren.

Schon im Oktober 2015 (also Monate, bevor an deutschen Grenzen wieder geschossen wurde) fiel einem Volker Beck auf die Einlassung eines Parteikollegen, man werde das mit den Flüchtlingen wohl doch nicht so ohne weiteres schaffen nichts weiter ein als "Wer nur danach ruft, die Zahl zu begrenzen, spielt auf der rechten Klaviatur".

Ahhhhhhh... Die gute, alte "Rechts!"-Warnung... Na dann ist ja alles okay...

Aber was ist das? Die Menschen vernehmen den Warnruf sehr wohl: "Obacht! Rechts!" schallt es ihnen entgegen. Doch was tun sie? Sie bleiben kurz stehen, zucken mit den Schultern, entgegnen "Ja? Und?" und gehen weiter.

Nun ernten wir dick und fett den Jackpot, in den wir jahrzehntelang eingezahlt haben. Wenn "Rechts!" in der Vergangenheit oft nichts weiter war als ein Werbespot, eine Rundfunknachricht, ein Plattencover, ein Modelabel, ein Joghurtgeschmack oder eine Schriftart, dann muß man sich jetzt nicht wundern, wenn der vermeintliche Warnruf "Rechts!" für viele Leute plötzlich überhaupt keinen Schrecken mehr hat sondern - im Gegenteil - dankbar als Wegweiser angenommen wird zu einer Antwort auf Probleme, die man anderenorts lieber nicht angeht, weil man beim Lösungsprozeß vielleicht irgendwann auch Gedanken bemühen muß, die irgendwie ein wenig zu "Rechts!" klingen könnten.

Wer dann welche Lösungen oder Antworten oder Ausreden parat hat, wenn das "Rechts!", vor dem in diesen Tagen gewarnt wird, nicht nur konkurrenzlos bleibt, sondern sich letztlich wirklich als wahrlich, gänzlich und häßlich rechts entpuppen sollte, das steht auf einem ganz anderen Blatt.
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* Extra-Bonus-Schleife: Sollten andere Leute auf die Idee kommen, auf nicht-rechte Phänomene hinzuweisen, gegen die man sich streng genommen auch aussprechen müßte, wenn einem die Rede von Frieden, Freiheit, Toleranz und Gleichheit wirklich etwas bedeutet, und sollte man aufgrund dieser Hinweise eine gewisse Unsicherheit verspüren, ob man dieses Terrain nun wirklich betreten darf oder nicht, dann kann man sich im Notfall immer noch geschickt befreien, indem man das Hinweisen auf diese Phänomene selbst als "Rechts!" brandmarkt.

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